Kapitel II
Selbstprüfung und Entwicklung
zum Wahren Menschen
Es gibt grundsätzlich zwei Phasen, durch die der ringende Schüler gehen muss, bevor er sich über das Körperbewusstsein erheben kann und anfängt, an den Spirituellen Übungen Gefallen zu finden, um so auf dem Pfad der Spiritualität entschlossen voranzuschreiten. Im ersten Stadium weiß der Schüler wenig oder nichts von der Selbstprüfung und befindet sich in einem Zustand abgrundtiefer Unwissenheit. Auf der zweiten Stufe beginnt der Schüler, sich bewusst zu werden, dass er unzählige Fehler und Mängel hat. Diese müssen beseitigt werden, bevor er darauf hoffen kann, sich über das Körperbewusstsein zu erheben – auf die Stufe, wo dieser Pfad tatsächlich erst beginnt.
Dieses zweite Stadium, das für die meisten einen langwierigen Kampf mit den niederen Eigenschaften des Gemüts bedeutet, ist als Entwicklung zum Wahren Menschen bekannt. Spiritualität oder das Sich-Erheben von den niederen Ebenen des Seins zu den höheren Bereichen der Unaussprechlichen Glückseligkeit und Harmonie ist nicht schwierig. Es ist die Entwicklung zum Wahren Menschen, die schwierig ist. Für dieses zweite Stadium gibt es keine besondere zeitliche Begrenzung. Alles hängt davon ab, wie bereitwillig der Schüler ist, selbstdiszipliniert zu sein, den Geboten des Meisters zu folgen und Liebe zu Ihm zu entwickeln.
Als letztes Hindernis muss das sich selbst behauptende Ego besiegt werden. Das kann nicht geschehen, solange die Seele nicht beginnt, zu sich selbst zu kommen und einen Schimmer ihrer Wahren Natur erhält. Dann entwickelt der Schüler in sich eine natürliche Demut. Denkt aber daran: Demut ist nicht mit einer unterwürfigen Haltung zu verwechseln. Wirkliche Demut hat Kraft und ist dennoch nicht anmaßend.
Obwohl die Gnädige Meisterkraft dem Schüler immer zur Seite steht, um ihm in seinem Kampf zu helfen, muss der Schüler durch dieses Stadium doch selbst hindurch. Niemand sonst kann es für ihn tun. Ihr seid auf den Pfad gestellt worden und habt ein Startkapital erhalten, das immer noch in euch liegt: Eine Saat wurde in euch gelegt, die eines Tages sicherlich Frucht tragen wird, und in Seiner feinstofflichen Form von Licht und Ton ist der Meister als ständiger Begleiter bei euch. Ebenso ist Er fähig, Sich in Seiner bezaubernden Strahlenden Form, zu offenbaren, sobald ihr gelernt habt, euch über das Körperbewusstsein zu erheben. Es ist nicht vernünftig zu erwarten, in die höheren Ebenen zu gelangen, ohne sich vorher in hohem Maß zu vervollkommnen. So wie es beim weltlichen Studium nicht außergewöhnlich ist, zwanzig Jahre oder mehr aufzuwenden, um die notwendigen Fähigkeiten für eine Karriere zu erwerben, so muss der Schüler erst recht mehr Zeit und Mühe einsetzen, um ein geeignetes Gefäß zu werden, das die Wahrheit Gottes und die seiner eigenen Seele widerspiegeln kann. Manche haben eine sehr seltsame Vorstellung: Sie erwarten Selbst- und Gottverwirklichung in nur kurzer Zeit und mit wenig Mühe. Dieselben Leute aber sind bereit, Jahre härtester Mühen auf sich zu nehmen für den Topf voll Essen, der bereits alles ist, was diese Welt zu bieten hat.
In keiner anderen Form als der menschlichen kann eine Seele Gott verwirklichen. Selbst Götter und Göttinnen verlangen danach, die menschliche Form zu erhalten. Das zeigt, dass die menschliche Form wegen ihrer großen Spirituellen Möglichkeiten die Höchste in der ganzen Schöpfung ist.
Ich möchte nochmals die Wichtigkeit der Selbstprüfung betonen, für die das Führen des Tagebuches vorgeschrieben ist. Äußerste Wachsamkeit und eine sorgsame Lebensweise sind als hilfreiche Faktoren für den Inneren Fortschritt wesentlich. Man sollte ein diszipliniertes Leben dadurch anstreben, dass man über die Sinne – die dem Gemüt Nahrung geben, welches wiederum die Seele beherrscht – völlige Kontrolle erreicht.
Licht und Ton, die Inneren Göttlichen Bindeglieder, sind äußerst hilfreich dabei. Wenn ihr diesen Göttlichen Prinzipien folgt, wird sich der Innere Wandel des Lebens wie von selbst ergeben. Die Wahrheit steht über allem, aber höher noch ist die Wahre Lebensweise.
Nehmt eine rechtschaffene Lebensweise an und seid genügsam. Ihr mögt bestimmte Wünsche haben, aber haltet ein, vermehrt sie nicht. Betrachtet die Wünsche von neuem und überlegt, wohin sie euch bringen werden. Was liegt vor euch und was werdet ihr mit euch nehmen? Wir hetzen und jagen durchs Leben und sind uns die meiste Zeit nicht einmal bewusst, was wir tun. Deshalb rät uns der Meister, all unsere Angelegenheiten ruhig und gelassen zu handhaben. Wenn jemand auf irgendeinem Gebiet menschlicher Tätigkeit ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, ist es wichtig, dass er von Zeit zu Zeit Bilanz zieht, um zu sehen, wie weit er fortgeschritten ist. Nur durch eine solche Bestandsaufnahme kann man sich seiner Fehler und Schwächen bewusst werden, sie für immer beseitigen und den weiteren Fortschritt planen.
Wenn ihr Seinen Anweisungen folgt und nach dem lebt, was Er sagt, wird euch alles zur rechten Zeit gegeben werden. Jeden Tag werden euch Aufgaben gestellt, die dazu bestimmt sind, euren Spirituellen Fortschritt zu fördern. Leider warten die meisten Menschen auf eine spezielle Anweisung durch den Meister selbst, bevor sie etwas als Aufgabe von Ihm ansehen. Sie erkennen nicht, dass ihr tägliches Verhalten, ihr Umgang mit anderen Menschen bei ihrer Arbeit, die Verantwortung in ihren anderen weltlichen Pflichten und wie gut sie sie erfüllen, alles Aufgaben sind, die vom Meister gegeben wurden. Wenn ihr eure Reaktionen auf Situationen aus eurem täglichen Leben genau beobachtet, werdet ihr feststellen können, wie weit ihr spirituell fortgeschritten seid. Das ist der wichtigste Teil der Spiritualität, was den Schüler betrifft. Er muss zuerst seine Lektion bei der Entwicklung zum Wahren Menschen bewältigt haben, bevor ihm Höhere Aufgaben übertragen werden können.
Jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat – ob gut oder böse – hinterlässt einen unauslöschlichen Eindruck im Gemüt und man muss dafür bezahlen. Deshalb sind rechte Gedanken, rechtes Bestreben und rechte Lebensführung notwendig, denn sie bilden gemeinsam eine schützende Hecke um die zarte, junge Pflanze der Spiritualität.
Wie entsteht ein Wunsch? Alle Vorstellungen im Gemüt sind Wünsche. Seid also wunschlos! Ihr werdet vielleicht schon bemerkt haben, dass Ärger aufsteigt, wenn ein Hindernis die Erfüllung eures Wunsches blockiert. Dann erhebt sich der Stolz: Ich muss das haben oder jenes tun, sonst leidet mein Ansehen in den Augen der anderen. Man kann Stolz als die Basis aller Sünden betrachten, denn er wandelt sich in Ichheit, Ego. Der Meister rät uns, Eigensinn und Halsstarrigkeit loszulassen. Achtet immer darauf, auch die Meinung des anderen anzuhören – vielleicht stellt ihr dann fest, dass es richtig ist, was er sagt. Eigensinn bindet einen Menschen nur noch mehr, es ist dann alles sehr engherzig. Dogmatisches Bücherwissen zum Beispiel, es mag richtig sein oder falsch, sollte abgelegt werden. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass man sich von Verhaftungen befreien sollte. Beendet das Geben und Nehmen, denn ihr müsst den Körper und alles, was damit zusammenhängt, zurücklassen. Wenn ein Hindernis zwischen euch und euren Wunsch kommt, wird der Wunsch noch stärker.
Legt einen großen Felsblock mitten in einen schnell strömenden Fluss und ihr werdet dadurch zwei Dinge bewirken: Schaum und Lärm. Wenn ein Mensch wütend ist, kann er nicht ruhig sprechen und am Ende hat er auch noch Schaum vor dem Mund. Wenn ihr aber das bekommt, was ihr euch wünscht, wird daraus eine Bindung. Für all das gibt es nur ein Heilmittel: Nur nachdem ihr euer Wahres Selbst gesehen habt, könnt ihr den Herrn erkennen. Die Millionäre werden ihre Millionen zurücklassen; die in Lehmhütten leben, werden ihre Lehmhütten hinter sich lassen. Ihr habt diesen Körper nicht mitgebracht, und ihr werdet ihn auch nicht mitnehmen, wenn ihr zurückkehrt. Doch eure Handlungen werden mit euch gehen.
Was ist noch notwendig, um mit dem Herrn wieder vereint zu werden? Sadachar, rechte Lebensweise, ist sehr wesentlich. Das Gemüt, das durch die schlechten Einflüsse von außen Amok läuft, muss zur Ruhe gebracht werden. Nur dann ist wirklich ein Fortschritt möglich. Unser größtes Hindernis ist, dass die Seele unter der Kontrolle des Gemüts ist und das Gemüt wiederum unter der Kontrolle der Sinne. Die Befreiung aus dieser Bindung wird durch eine rechte Lebensweise beschleunigt. Wir nehmen durch die Augen, die Ohren, die Zunge, den Geruchssinn und über die Haut die Eindrücke von außen auf; wir müssen daher Selbstbeherrschung lernen. Nur ein solcher Mensch kann durch Regelmäßigkeit und durch Selbstprüfung von Tag zu Tag fortschreiten. Das ist äußerst wichtig. Eure eigene Aufmerksamkeit, Surat, die der Ausdruck der Seele ist, macht es euch unmöglich, im Inneren zu sehen, wenn sie im Äußeren tätig ist.
Was entwickelt sich alles durch rechtes Verstehen? Rechtes Denken und darüber hinaus rechte Worte, und dem werden rechte Handlungen folgen. Wenn ihr das könnt – wenn ihr euer Ego überwinden und es zu Füßen des Meisters hingeben könnt, wenn ihr lernen könnt, Ihn durch alle Dinge wirken zu sehen, wenn ihr die Tatsache akzeptieren könnt, dass eure eigene Sichtweise begrenzt ist und ihr in der Lage seid, beständig und ganz aufmerksam eure Worte und Taten zu beobachten und alles Schlechte und Unvollkommene zu beseitigen, dann werdet nicht nur ihr selbst die Erlösung erlangen, sondern auch andere fähig machen, dasselbe zu tun. Euer Beispiel wird wie eine Fackel in der Dunkelheit leuchten, und die Menschen werden sich um Rat und Hilfe an euch wenden – selbst die, die vorher gegen euch waren. Ihr werdet ein ungekanntes Gefühl des Friedens erleben, das euch durchströmt. Ein Friede, der nicht davon abhängig ist, dass ihr im Äußeren von Schwierigkeiten frei seid, sondern der einen Inneren Zustand darstellt, in dem ihr selbst in den stürmischsten Situationen nicht zu erschüttern seid.
Diese Eigenschaft wird nicht nur in euer individuelles Leben eintreten, sondern in das Leben der Großen Spirituellen Bewegung, von der ihr ein Teil seid.