Kirpal Singh

Der Hinduismus

Auszug aus dem Buch ‚Die Krone des Lebens‘

Übersetzung aus englischen Vorlagen durch Schüler Kirpal Singhs

 

Die Hindu-Religion ist ein gewaltiges Meer religiösen Gedankenguts, dessen Ursprung in die frühesten Zeiten, lange vor dem Aufdämmern der Geschichte, zurückreicht und das in seiner vielfarbigen Struktur mit ihren mannigfaltigen Abtönungen eine endlose Reihe an Gestaltungen und Formen umschließt, wie sie das menschliche Gemüt hervorgebracht hat; vom Animismus zur Anbetung der Natur, von den Naturkräften in abstrakter Form bis zu den personifizierten und wesenhaften Formen, von Gottheiten und Göttinnen bis zu dem einen höchsten Gott, zuerst dem persönlichen und dann dem unpersönlichen, von der Form zum Formlosen. Das Hindu-Pantheon bietet dem wissbegierigen Publikum eine große und gewaltige Schar von Gottheiten zur Betrachtung dar, so einer die Nebelschleier der eisgrauen Vergangenheit durchdringt.

Der Sonnenkult, die Anbetung von Helios oder der Sonne, wurde von den Menschen der Welt ganz allgemein ausgeübt. Sol oder die Sonne war für die Menschen immer Gegenstand großer Verehrung und wurde auf der ganzen Welt seit undenkbaren Zeiten gepriesen und angebetet. Die alten Griechen und Römer bauten Tempel für Apollo und Phoebus, wie sie den Sonnengott in ihrer Zeit nannten. In allen anderen Gotteshäusern nahm das Idol oder die Darstellung des Sonnengottes einen bedeutenden Platz in ihrer hierarchischen Ordnung ein. Wir haben in Konrak, Südindien, einen berühmten Sonnentempel und im Norden die historische Stadt Mooltan oder das Sonnenland; während die Jog-maya- oder Jot-Maya-Tempel über den ganzen indischen Kontinent verstreut sind.

Die alten Griechen haben auch von Shabd gesprochen. In den Schriften von Sokrates lesen wir, dass er in sich einen bestimmten Ton hörte, der ihn unwiderstehlich in höhere spirituelle Bereiche gezogen hat.

Pythagoras sprach ebenfalls von Shabd, denn er hat Gott als die erhabene Musik vom Wesen der Harmonien beschrieben. Für ihn war Gott die absolute Wahrheit, in Licht gekleidet. Als er einem Adler befahl, herunterzukommen, und einem Bären, das verwüstete Apulien zu verlassen, fragte ihn die verwunderte Menge nach der Quelle, von der er solche Kräfte nahm, und er entgegnete, dass er sie alle der Wissenschaft des Lichts verdanke.

Wiederum haben wir in der griechischen Sprache das mystische Wort Logos. Es rührt von der Wurzel 'logo' her, was sprechen bedeutet und wovon die Begriffe Monolog, Dialog, Prolog, Epilog usw. abgeleitet wurden. Es bedeutet das Wort oder die Vernunft.

Diesen Begriff Logos gibt es in der hebräischen und christlichen Philosophie und Theologie, er wurde sowohl von den hellenistischen wie von den neuplatonischen Philosophen in seinem mystischen Sinne gebraucht. Die Christen wenden ihn an, um damit die zweite Person der heiligen Dreifaltigkeit zu benennen.

Die Alten des Westens übernahmen ihn von ihren Vorfahren, die Tausende von Jahren von der christlichen Ära lebten und große Liebe und Verehrung für Surya erwarben, die sie als den Inbegriff aller menschlichen Bestrebungen auf der Suche nach der allmächtigen Kraft Gottes betrachteten und als ein sichtbares Abbild auf dieser Erde. Sie nahmen diese Vorstellung mit sich, wohin immer sie sich wandten, ostwärts und westwärts. Sie verfassten Hymnen und sangen Psalmen zum Ruhme dieses prächtigen Gestirns, der Quelle allen Lebens auf diesem irdischen Planeten.

Diejenigen, welche sich in Persien angesiedelt hatten und später als Parsen bekannt wurden, verehren die große Gottheit noch in einer anderen Form – dem Feuer –, das sie allezeit in ihren Tempeln als Symbol für die heilige Flamme unterhalten, die im menschlichen Herzen brennt und immerzu himmelwärts strebt.

Ratu Zoroaster, der Prophet des Lichts und Lebens in Persien, rühmte die Größe des Gottes des Lichts in liebenden und lebendigem Glauben und lehrte die Menschen, es ihm gleichzutun.

Agni oder das Feuer war bei den Gottheiten, welche diese geheimnisvolle Kraft bewachten, ein verborgenes Geheimnis. Es war, wie die griechische Sage erzählt, von Prometheus gestohlen und dem Menschen gegeben worden, wofür er von Zeus, dem Göttervater, zu ewiger Qual verurteilt wurde.

Im Kapitel VI der Chhandogya Upanishade ist gesagt, dass es das erste Element sei, dessen Schöpfung alle anderen Elemente ermöglicht hat, wie Wasser, Erde usw.

Ein zweiter Stamm der Arier, der gen Osten in Richtung der Indus-Ganges-Ebene gezogen war, berief sich in liebender Weise auf Aditya, und in den Veden gibt es Hymnen, die sich an Hiranyagarbha, Savitar und Usha wenden, die alle die eine lebensspendende Kraft der Sonne bezeichnen. Die verehrungswürdigen Meister des vedischen Zeitalters waren alle Bewunderer der reinigenden und heilenden Eigenschaften des Sonnengottes, und so ist es kein Wunder, dass wir in den Veden viele Hymnen finden, welche die Sonne vergöttlichen.

Am Anfang erhob sich 'Hiranyagarbha' als der einzige Herr aller erschaffenen Wesen. Er festigte und stützte die Erde und den Himmel; Welchen Gott sollen wir mit unserer Opfergabe ehren? […] Als die gewaltigen Wasser kamen, die den universalen Keim enthielten und 'Agni' hervorbrachten, da kam der eine Geist Gottes ins Sein; welchen Gott sollen wir mit unserer Opfergabe ehren?

Buch X, 121

In einer andern Hymne bezieht man sich auf ihn als den aus sich selbst strahlenden, weisen Aditya.

In Buch I, 113 finden wir eine Hymne an die Morgenröte, in der folgende Zeilen zu lesen sind:

Dieses Licht ist unter allen Lichtern das schönste; das Strahlende ist geboren, um Helligkeit zu verbreiten. Die Nacht, verdrängt durch 'Savitars' Aufgang, ist der Geburt des Morgens gewichen. […] Erhebt euch! Der Odem, das Leben, ist wieder gekommen; die Dunkelheit ist vergangen und das Licht ist nahe. Sie hat der Sonne freie Bahn gegeben: Wir sind dort angelangt, wo die Menschen ihr Leben verlängern.

Dies alles könnte im wörtlichen Sinne für lediglich etwas mehr als Natur-Verehrung gehalten werden, als Anbetung der Sonne, die bei einem Volk, dessen Existenz vom Ackerbau abhängt, verständlich ist. Aber die alte indische Literatur hat eine schwer zu fassende Eigenschaft: sie scheint uns zunächst auf einer Ebene zu belehren, und wenn wir uns dieser angepasst haben, bringt sie uns auf eine andere. Wer ihren Feinheiten folgen kann, entdeckt einen Reichtum, den er selten anderswo findet. Es gibt eine Vielfalt von Bedeutungen, die vom Physischen bis zum Kosmischen und Spirituellen reichen, und vom Buchstäblichen bis zum Symbolischen und Esoterischen, das uns auf den verschiedensten Erfahrungsebenen anspricht und uns besonderen Lohn bietet. Wenn wir somit diese häufigen Hinweise auf die Sonne zu studieren beginnen, werden wir erkennen, dass die 'Sonne', auf die sie sich beziehen, nicht immer das Zentrum unseres physischen Universums ist, wie wir anfangs angenommen haben.

In der Isha-Upanishade lesen wir:

Das Tor zu dem Wahren Einen ist von einer goldenen Scheibe verdeckt; öffne sie, o Pushan, damit wir das Wesen des Wahren Einen schauen.

Nachdem wir von solchen Darlegungen berichteten, beginnen wir eine esoterische Bedeutung zu entdecken, die wir früher übersehen haben, wenn wir von Brahman oder dem Höchsten als Jyotisvat lesen, der voll des Lichts ist, und Prakashvat, von Glanz umgeben. Und all das entfaltet sich weiter, wenn wir an das Gayatri, das zehnte Mantra der sechzehnten Sutra im dritten Mandala des Rig-Veda, herangehen:

Die heilige Silbe 'Aum' murmelnd, erhebe dich über die drei Regionen. Wende deine Aufmerksamkeit der alles in sich aufnehmenden Sonne im Innern zu. Sich ihrem Einfluss hingebend, bleibe vertieft in die Sonne, und sich zum Bilde wird sie dich gleicherweise leuchtend machen.

Dieses Mantra wird als das heiligste betrachtet, das Mool Mantra in der vedischen Literatur. Es wird den Hindus von früher Kindheit an aufzusagen gelehrt. Hier wird die innere spirituelle Bedeutung der 'Sonne' völlig klar. Gegenstand der Verehrung ist nicht die, welche uns in der äußeren Welt mit ihrem Licht versorgt; es ist ein Prinzip, das die physische, astrale und kausale Existenzebene übersteigt und die Quelle der inneren Erleuchtung ist.

Dieses Prinzip wird auch Aum genannt, ein Ausdruck, der auf die drei Phasen der menschlichen Erfahrung hinweist: 'A' bezieht sich auf den Wachzustand (Jagrat), 'U' auf den Traumzustand (Swapana) und 'M' auf den des Tiefschlafs (Sushupti). Die letzte Wirklichkeit umschließt alle diese Ebenen und auch die drei Phasen der menschlichen Erfahrung, geht jedoch gleichzeitig darüber hinaus. Und die Stille, die jedem Aufsagen des Wortes Aum folgt, deutet auf den Zustand von Turya oder des absoluten Seins hin, das die unbeschreibliche Quelle und das Ziel von allem ist. Es ist Brahman, das Allesdurchdringende, dessen erstes Attribut Glanz ist, das jedoch in sich selbst jenseits dieses Glanzes liegt. Daher ist dem Mantra in seiner ursprünglichen Form im Rig-Veda noch eine weitere Zeile angefügt, die nur den Sanyasins und ausgewählten Schülern bekannt gegeben wird – Paro Raj-asal Savad Aum: Wer diesen Glanz übersteigt, ist dieses Aum.

Das Gayatri Mantra löst nicht nur die üblichen Verwirrungen der in den Veden vielfach enthaltenen Hinweise auf die Sonne, es beleuchtet auch noch ein anderes, stets wiederkehrendes Thema des hinduistischen Denkens. Seine große Bildhaftigkeit und seine Volkstümlichkeit bringt uns zu der Frage der Mantras und ihres Platzes in der religiösen Praxis der Inder. Die Mantras oder Wortformeln, in Sanskrit-Verse oder -Prosa, sind in zwei Arten eingeteilt: jene, die nur zum Aufsagen gedacht sind und nicht verstanden zu werden brauchen, und andere, die als eine göttliche Anrufung dienen und deren Bedeutung man kennen muss, damit der Ergebene instand gesetzt wird, seine Aufmerksamkeit auf das göttliche Ziel zu richten. Die verschiedenen Mantras haben alle ihre besonderen Vorteile. Es gibt solche, deren Meisterung oder Siddhi eine Verbindung zu magischen Kräften niederer Ordnung (Tamas) einbringt; andere verleihen Mut, Stärke und Kraft (Rajas) und wieder andere haben zum alleinigen Ziel die spirituelle Erhebung (Satva). Unter den Letzteren wird das Gayatri, wie wir bereits gesehen haben, am meisten geschätzt.

Die seit undenklichen Zeiten beliebt gewordenen Mantras betonen nachdrücklich die Spirituelle Bedeutung des Tones. Wenn das Singen von gewissen Wortformeln magische Kräfte verleiht oder beim Spirituellen Vorwärtskommen hilft, dann muss im Ton selbst eine latente esoterische Kraft liegen. Darum wurde Vak Devi, die Göttin der Sprache, in hohen Ehren gehalten. Jedes Wort hat seinen einmaligen Charakter und seinen bestimmten Platz, aber von allen Worten ist Aum das heiligste.

Seine symbolische Bedeutung haben wir bereits untersucht. Wir wollen diese Worten noch einige weitere hinzufügen. Es ist nicht nur ein Wort, das die Eigenschaften des absoluten Brahman bezeichnet, sondern eines, das das Brahman selbst bedeutet. Im Rig-Veda lesen wir:

Prajapati vai idam agref aseet Tasya vag dvitya aseet Vag vai parman Brahma.

Im Anfang war Prajapati, Brahma, bei ihm war das Wort, und das Wort war wahrhaftig der höchste Brahma –

ein Text, der in bemerkenswerter Weise den Eingangsworten des Johannes-Evangeliums gleicht:

Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Somit wird Aum zum Brahman, das sich im Wort offenbart; und in der Taittiriya-Upanishade bezeichnet man es als die 'Hülle des Brahman', als etwas, das sein Leben von Brahman nimmt und es enthält.

Dieser Aspekt tritt im Sam Veda noch klarer hervor:

Brahman ist zugleich Shabd und Ashabd, und Brahman allein vibriert im Raum.

Mit anderen Worten: der Absolute Eine ist nicht nur der innere Glanz, sondern auch etwas, das darüberliegt, wie im Gayatri Mantra angedeutet ist. Er ist Eins mit dem Wort, dem Shabd oder Aum und doch zugleich jenseits davon. In der Tat sind Licht und Ton als Seine ersten Offenbarungen bekannt. Das Gayatri empfiehlt, dass man während man sich auf das göttliche Wort Aum konzentriert, seine Aufmerksamkeit auf die innere Sonne heften soll. Und aus der Chhandogya Upanishade wissen wir, dass Nad oder die Göttliche Musik aus der universalen Sonne (von Brahmand) hervorgeht; ein Geheimnis, das von Rishi Ingris an Krishna, den Liebling von Devki (III, 17-6 und 93), weitergegeben wurde. Es war diese mystische Einsicht, die in den Shrutis oder Schriften zu finden ist und welche durch das innere Hören enthüllt ward, das zur Entfaltung dessen geführt hat, was Sphota-vadha oder die Philosophie des Wortes genannt wurde. Die Lehrer dieses Pfades predigten, dass der Absolute das Wortlose, Bildlose und Unbeschreibliche und Unbedingte war. Als Er sich offenbarte, trat Er als Sphota oder das Wort in Erscheinung, das von Licht erstrahlt und von unbeschreiblicher Musik vibriert. Der Sucher, der sich von der Ebene der Relativität zur ewigen und unwandelbaren erheben will, muss sich mit Sphota oder der Kraft des Wortes verbinden, durch die er zu Brahman gelangen kann, das über Shabd oder Sphota liegt Der Pfad der Gottverwirklichung war bestimmt nicht leicht; es war schwer, den Zugang zu ihm zu finden, schwer, ihn zu gehen, schwer, darauf auszuharren und schwer, ihn zu überqueren; doch der einzig mögliche Weg für einen, der seinem Meister und dessen Sache treu ist.

Dies sind in der Tat die Wahrheiten, wie sie von früheren Weisen des alten Indien gelehrt und praktiziert wurden. Aber wie viel ist davon übrig geblieben? Für den größten Teil von ihnen finden wir Rituale – das Blasen des Muschelhorns, Glockenläuten, Schwenken von Lichtern und die Verehrung der Sonne – die von den Mysterien im Innern zeugen; aber wie wenige sind sich ihrer wahren Bedeutung bewusst! Trotz des kraftvollen und dauerhaften Einflusses von Lord Krishna, der das Beste der vedantischen Lehren in das Herz des gewöhnlichen Menschen gebracht hat, tendierte die Religion in Indien genau wie anderswo zu bloßem Kastenwesen und Zeremonien. Das Licht und die Musik im Äußeren werden verehrt, aber das flammende und tönende Wort im Innern, auf welches diese hinweisen, bleibt unbeachtet.

Das Licht ruft in die Finsternis, und die Finsternis begreift es nicht.