Kirpal Singh

Die Umgestaltung unseres Schicksals

Eröffnungsrede von Kirpal Singh, Präsident der Unity of Man Konferenz,
am 3. Februar 1974

Ein mystisches Band der Bruderschaft macht alle Menschen Eins.

Thomas Carlyle

Liebe Brüder und Schwestern!

Ich bin glücklich, Sie alle, die Sie sich aus der ganzen Welt hier zusammengefunden haben zu begrüßen. In dieser bedeutsamen Konferenz müssen wir Mittel und Wege erforschen und finden, um die Einheit des Menschen zu stärken und zu festigen. Nationen werden wie Menschen von Leidenschaften, Stolz und Vorurteilen mitgerissen, was Abgründe im sozialen Gefüge schafft, die oft schwer zu überbrücken sind. Wir leben in einer Zeit des Verfalls, wo sich moralische und Spirituelle Werte auf ihrem niedrigsten Stand befinden. Trotz all dieser Rückschläge und zahlreichen entzweienden Bestrebungen gibt es noch einen Hoffnungsstrahl für die Erneuerung und Neuorientierung. Eben diese Hoffnung hat uns zusammengeführt.

Ich danke Ihnen allen für die liebevolle Antwort auf den Aufruf zur Umgestaltung unseres Schicksals, um einen dauerhaften Frieden zu erlangen.

Man sagt:

Der Osten ist der Osten und der Westen ist der Westen, und niemals werden diese beiden zusammenkommen.

Das mag für die eine oder andere Zeit oder für den Autor des Ausspruchs, Rudyard Kipling, richtig gewesen sein; aber sicherlich hat er kein Gewicht für Menschen Gottes in diesem gegenwärtigen wissenschaftlichen Zeitalter, wo Entfernung und Reue rasch ihre Bedeutung verlieren und Versuche unternommen werden, interplanetarische Verbindung herzustellen.

Die verschiedenen Länder der Erde sind nur wie Räume im Haus Gottes, die die verschiedenen Räume beherbergen. Voneinander unterscheiden durch ihre geographischen, klimatischen und historischen Gegebenheiten, den Gesichtsschnitt und die Hautfarbe, die Sprachen und Dialekte, ihre Ernährung, Erscheinung und die Formen der Gottesverehrung, bilden all diese Menschen, die durch diese verschiedenen Faktoren geprägt sind, die große organische Ganzheit, die Menschheit genannt wird.

Bei all diesen scheinbaren Verschiedenheiten und Unterschieden in Farbe, Glaubensbekenntnis und Kaste und diesen Mannigfaltigkeiten in seiner Lebens- und Denkweise bleibt er wesentlich und grundsätzlich ein Mensch in der äußeren Erscheinung und im inneren Aufbau. Die Einheit ist bereits durch die menschliche Gestalt gegeben, da jeder von uns auf die gleiche Weise, mit dem gleichen inneren und äußeren Aufbau zur Welt kam, und jeder hat eine Seele, die vom gleichen Wesen ist wie Gott. Wir sind Tropfen aus dem Meer aller Bewusstheit, die wir als den gleichen Gott anbeten, wobei wir Ihnen mit verschiedenen Namen anrufen. Heilige sagen, dass der menschliche Körper der Wahre Tempel Gottes ist und dass Er in dem Tempel wohnt, der von Ihm im Mutterleib geschaffen wurde, und nicht in den von Menschenhand erbauten Tempeln, und dass die menschliche Gestalt uns mit der goldenen Gelegenheit versieht, Ihn zu erkennen.

Der Mensch hat drei Aspekte: den physischen Körper, den Intellekt und eine bewusste Wesenheit. Er hat physisch, intellektuell und technisch Fortschritte gemacht, aber dennoch ist er unglücklich und hat sich Spirituell nicht entfaltet. Er hat seinen Verstand und nicht sein Herz entwickelt, und seine wissenschaftlichen Kenntnisse verkehrt er in teuflische Bosheit. Das hat ein Spirituelles Vakuum geschaffen.

Wir stehen inmitten einer zweifachen Krise: auf der einen Seite ein staatlicher Kultur des Militarismus, beschönigend ‚Patriotismus‘ genannt, und auf der anderen eine Apathie gegenüber der Spirituellen Entwicklung durch das Erkennen des Wahren Selbst. Durch das Fehlen jeglicher positiver Denkweise fallen wir moralisch zurück, und in dieser traurigen Lage können wir keinen dauernden Frieden haben. Guru Nanak betete deshalb:

O Gott, die Welt steht in Flammen und ist unserer Kontrolle entglitten. Errette sie, wie es Dir am besten gefällt.

Das Problem, das vor uns liegt, ist, wie man einen Wandel im menschlichen Herzen herbeiführen und seine Innere Umkehr bewirken kann, so dass es lernt, wahr und klar zu sehen und zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden. Da dies außerhalb der Möglichkeiten, die Körper und Intellekt gegeben sind, liegt, kann es nur durch eine Innere Erleuchtung der Göttlichen Weisheit im Heiligtum der Seele geschehen.

Dies ist der den einzelnen betreffende Gesichtspunkt der Sache. Wir müssen auch beständige Bande der Verwandtschaft unter den Weltnationen knüpfen, so dass sie einander mit aufrichtiger Höflichkeit begegnen, die auf einer von Herzen kommenden Liebe und Freundlichkeit begründet ist, und nach dem Wohlergehen aller Glieder der menschlichen Familie trachten, indem sie ihre politischen Überzeugungen, die Rivalität und internationale Spannungen schaffen, übersteigen.

Während meiner letzten Auslandsreise wurde ich in den Vereinigten Staaten vor dem Fernsehen gefragt:

Wie kann der Friede gefestigt werden?

Ich sagte zu ihnen:

Der Friede kann nur sichergestellt werden, wenn die Menschen sich über die ‚Ismen´ und Präsidenten wie Könige sich über nationales Denken erheben.

In einem ‚Ismus‘ zu verbleiben ist segensreich, wenn wir das Ideal, dem zuliebe wir uns ihm anschlossen, im Bewusstsein behalten und uns zum Universalismus erheben, aber wenn wir uns engherzig an die ‚Ismen‘ halten, ist das Ergebnis wiederum Engstirnigkeit und Egoismus. Desgleichen sollten Könige, die ihren Garten gut düngen und ihn in jeder Weise blühend erhalten, alle anderen Länder ebenso gedeihen lassen und das Glück unter den Menschen fördern; andernfalls wird es Konflikte und Kriege geben. Es ist in der letzten Zeit unser Bemühen gewesen, ein gemeinsames Forum und einen Treffpunkt zu finden, wo man solche bedeutsamen Dinge frei von Leidenschaften erörtern kann, indem man Unwesentliches vom Wesentlichen trennt und Differenzen aus dem Weg räumt, um Einigkeit im unterschiedlichen Denken zu finden und dauernden Frieden auf Erden zu bringen:

Vollkommene Eintracht und Freundschaft auf allen Gebieten unseres Lebens.

Um diese weltweite Bewegung zu verstehen, an der wir heute teilhaben, ist es notwendig, dass wir auf ihren Hintergrund zurückblicken. Religiöse Kontakte wurden schon im Jahr 1893 hergestellt, als der Volksheilige Vivekananda mit der Botschaft der Upanischaden und der Gita hinausreiste und Indien im Parlament der Religionen in Chicago vertrat. Sein Leben und seine Lebensweise zeigten einen praktischen Weg zur Verdeutlichung der wesenhaften Einheit aller Religionen auf, und um die Botschaft zu verkünden, gründete er im Namen seines Meisters Paramhansa Ramakrishna eine Reihe von Missionen. Zehn Jahre später, im Jahr 1903, vertrat ein anderer junger Gelehrter, Swami Ram Tirath, im Westen in Philosophie des Vedanta in einer solch erleuchteten Weise, dass er als ‚lebender Christus‘ begrüßt wurde.

So war der Weg für den nächsten großen Schritt, die Verbreitung der Spiritualität oder Mystik- das Fundament jeder Religion – geebnet. In seiner reinen Form schließt dies das Erwachen des Menschen zu einem Bewusstsein ein, das sowohl über den Sinnen als auch dem Denken liegt und eine unmittelbare Offenbarung ist. Alle Mystiker des Ostens und des Westens glaubten an die Möglichkeit einer unmittelbaren Verbindung mit dem Geist und der Kraft Gottes durch Liebe und Versenkung, ohne die Hilfe des Verstandes und der Logik. Die stellt den Menschen auf den Inneren Weg (nicht zu verwechseln mit Weltflucht), dessen wesentliche Voraussetzung eine ethische Lebensweise ist. Dies ist die Religion des Geistes oder die Wissenschaft der Seele. Durch sie findet der Mensch sein rechtes Verhältnis zum Universum, indem er seinen Kontakt mit Gott herstellt mit Hilfe seiner Ausdrucksformen, der Kraft, die Naam, Shabd, Kalma oder Wort genannt wird und die die ganze Schöpfung gestaltet hat, durchdringt und kontrolliert. Die Beziehung zu dieser Kraft wird erlangt, wenn man Achtung für das Leben auf allen Daseinsstufen, ohne zwischen hoch und niedrig zu unterscheiden, den Menschen, den Vogel, das Tier und die niedrigen Arten eingeschlossen entwickelt. Die nicht-menschlichen Formen sind die jüngeren Glieder der Familie Gottes.

Der Gedanke der Heiligkeit des Lebens ist eine lebendige Religion der Liebe im tiefsten Wesen unseres Seins. Wahre Gottgläubigkeit (Theismus) kann nicht intellektuell erdacht oder auf der Ebene der Gefühle empfunden werden, sie geht aus Wahrem Wissen hervor, was eine Tätigkeit der Seele in vollkommener Harmonie jenseits der Sinne darstellt. Das nennt man ‚Spiritualität‘ – die Verbindung der Seele mit der Überseele – und man erlangt sie, indem man sich durch praktische Selbstanalyse über das Körperbewusstsein erhebt, wovon man von einem der ein Adept dieses Vorgangs ist, eine Demonstration erhalten kann. Wir nennen es Para Vidya (das Wissen vom Jenseits), da es außerhalb unserer Sinneswahrnehmungen liegt.

Diese Wissenschaft der Seele ist nichts Neues; sie ist die älteste aller Lehren. Der Weg zurück zu Gott ist Gottes eigene Schöpfung, und er zeugt für sich selbst, ohne dass er der Unterstützung durch das geschriebene Wort bedürfte, um ihm Autorität zu verleihen. Aber unmissverständliche Hinweise in den Schriften aller Religionen vom Anbeginn der Zeit bis zum heutigen Tag bezeugen die Ungeoffenbarte Wirklichkeit in ihrer ursprünglichen Form von Licht und Ton.

Im gegenwärtigen Zeitalter belebten Heilige wie Kabir und Guru Nanak die alten Lehren der Weisen der Vergangenheit von neuem. In jüngerer Zeit wurde die Fackel durch ihre Nachfolger am Leben erhalten, bis der Spirituelle Mantel schließlich die Persönlichkeit von Baba Sawan Singh Ji heiligte, der während seines 45 Jahre währenden geistlichen Amtes (1903–1948) die Lehre außerordentlich weit verbreitete. Im Jahr 1911 begann er das Werk, das Evangelium der Liebe, des Lichts und des Lebens auch der westlichen Welt zu offenbaren.

Der Ruhani Satsang wurde 1948 gegründet und der Aufgabe gewidmet, allen Klassen der Menschheit rein Spirituelle Unterweisung, bar jeden Rituals und aller Zeremonie und frei von Ausschmückung und Symbolen, zu gewähren. Anhänger verschiedener Bekenntnisse, Richtungen und Zentrum wurde – und er wendet sich an große Menschenmengen, die auf verschiedenen Straßen des Lebens hierher kommen und danach verlangen, die grundlegenden Wahrheiten, die den Kern aller Heiligen Schriften bilden, zu hören und zu verstehen. Die Vorträge laufen auf das allgemeine Thema hinaus, dass man eine direkte Berührung mit der Wahrheit herstellen muss, und es werden Versuche unternommen, die Aussagen der Seher und Weisen aller Zeiten wiederzugeben und in einer leicht verständlichen Sprache zueinander in Beziehung zu bringen. Gegenwärtige wird dies in 209 Zentren in der ganzen Welt verbreitet, was in einem beträchtlichen Maße dabei geholfen hat, bis zu einem gewissen Grad die künstlichen Schranken von Rasse, Sprache und Religion zu entfernen, und Menschen der verschiedensten Wesensart dazu bewegt hat, dem Namenlosen Wesen mit vielen Namen zu huldigen.

Durch die Gnade Gottes öffnete sich im Jahr 1957 unerwartet ein neues Feld, als Muni Sushil Kumar Ji eine Weltreligionskonferenz ins Leben rief, mit dem Grundgedanken, eine Weltgemeinschaft der Religionen zu gründen. Als ein Ergebnis weiterer Überlegungen entstand eine neue Gemeinschaft, die die meisten Glaubensrichtungen der Welt einschloss, und ich wurde zum Präsidenten gewählt.

Drei Weltreisen wurden unternommen und vier Weltreligionskonferenzen in Indien duchgeführt, neben Regionalkonferenzen in anderen Ländern. Ihr Ziel war es, die Idee der weltweiten Gemeinschaft unter den Menschen, die sich zu verschiedenen Glaubensrichtungen und –überzeugungen bekennen , zu verbreiten, und sie bewirkten unter den Repräsentanten der verschiedenen Religionen auf höherer Ebene ein weiteres und besseres Verständnis und einen Sinn für gegenseitiges Vertrauen und Zuversicht.

Aber während sich die religiösen Führer näher kamen, erhob sich unter ihren Anhängern eine Gefahr. Anstatt die Religion zu einer verbindenden Kraft zu gestalten, machten sie sie zu einem Instrument, das ihren heimlichen Interessen dienen sollte, und sie begannen kommunale Gruppen zu bilden, die ein Etikett trugen, das ihren ‚Ismen‘ zugeordnet war, und umgaben sie mit künstlichen Wällen von Hass und Misstrauen. Man fragt sich, wie ein Mensch, der Religiosität vorgibt, die ein Bindeglied zwischen Gott und Mensch ist, das Wagnis eingehen kann, zu vergessen, dass er ein Mensch ist, mit den gleichen Vorrechten von Gott ausgestattet wie jene, die er haßt, und dass er eine bewusste Wesenheit ist, ein Tropfen aus dem Meer allen Bewusstseins.

Um diese Gefahr des religiösen Chauvinismus zu bekämpfen, wurde es für notwendig erachtet, das Werk der Erneuerung von Grund auf zu beginnen. Die Heranbildung zum Menschen muss den Vorrang einnehmen. Dies kann nur geschehen, indem man den Menschen allgemein die humanistische Idee der selbstlosen Liebe und des selbstlosen Dienstes einprägt, mit besonderer Betonung des Dienstes am Menschen, des Dienstes am Land und des Dienstes am Tier. (Die Tiere sind unsere jüngeren Brüder und Schwestern in der Familie Gottes.) Diese Idee nahm im Jahr 1969 mit der Entscheidung, Zentren zur Heranbildung des Menschen oder ‚Manav Kendras‘ hier in Indien und im Ausland zu errichten, konkrete Gestalt an.

In Indien wurde ein Dehra Dun am Fuße der Shivalik-Kette der Himalayas ein Zentrum für den Menschen gegründet. Es hat ein Krankenhaus, ein Heim für bedürftige ältere Leute und eine Schule für die Kinder der armen Familien in der Gegend errichtet. Vorkehrungen für Landwirtschaft mit Viehzucht auf der Grundlage moderner Wissenschaft zu treffen ist Teil des Projektes. Schließlich hoffen wir, eine Universität zu bekommen, die mit den Originaltexten der Weltreligionen ausgestattet ist, so dass vergleichende Studien der darin enthaltenen Wahrheiten unternommen werden können, sowie eine Sprachschule, um die Sprachschwierigkeiten zu überwinden.

Diese Konvention hat das Ziel, die ganze Menschheit auf der Grundlage des Dienstes am Mitmenschen und des Glaubens in die Göttliche Kraft zu vereinigen und zu erreichen, dass es die religiöse und ethische Führerschaft der Welt dazu drängt, Apathie und Zurückhaltung abzuschütteln und eine führende Rolle in den menschlichen Angelegenheiten einzunehmen. Solche Konferenzen wurden in der Vergangenheit auf der Ebene der Religionen durchgeführt und waren folglich nicht in der Lage, eine Einigung in dem erforderlichen Maß zu erreichen. Ein hervorstechendes Merkmal dieser Konferenz ist, dass sie auf der Ebene des Menschen aufgebaut wurde, wie es Heilige und Propheten wie Sokrates, Buddha, Mohammed, Christus, Kabir und Nanak vor Augen hatten, so dass dies zu einem echten Zusammenschluss führen könnte. Die schwierige Aufgabe, die vor den religiösen und Spirituellen Führern liegt, ist, einen tiefgreifenden Wandel in der ethischen, erzieherischen und wirtschaftlichen Stellung der Menschheit herbeizuführen. Eine Hebung der Wirtschaft ist wesentlich, denn ‚ein hungriger Mensch ist ein zorniger Mensch‘, und zu ihm von Gott zu sprechen ist Hohn.

Ich vertraue darauf, dass jeder von uns die Bedeutung dieses weltweiten Treffens klar erkennt und der Erfüllung seiner Ziele – die Entwicklung des menschlichen Verständnisses und die Verkündigung der Einheit des Menschen – seine aufrichtige Unterstützung angedeihen lässt. Mögen wir uns zu dieser Aufgabe verpflichten, indem wir alle enge Hörigkeit und beschränkenden Bindungen überschreiten und bis zu ihrer letzten Erfüllung vereint und entschlossen zusammenstehen.